Selbstorganisation

Perfektion: Das Streben nach Stillstand

Kommentar Der Soziologe Heinz Bude hat in seinem Buch „Gesellschaft der Angst“ festgestellt, die um 1980 geborenen Menschen seien die „Generation Null Fehler“. Sie denken defizitorientiert und handeln optimierungsgetrieben. Genau diese Generation besetzt heute die Führungsetagen von Unternehmen. Das hat Folgen.

Foto: Milad Fakurian/ unsplash
Foto: Milad Fakurian/ unsplash

Stärke oder Schwäche?

Bewerber:innen nutzen ihn noch heute, wenn sie eine Schwäche preisgeben sollen, aber eigentlich nicht wollen: Perfektionismus. das geht immer. Das empfehlen sogar Ratgeber für Bewerbungsverfahren. Wir denken auch heute noch, daraus könne uns niemand einen Strick drehen. Guter Trick, mit einer Schwäche eigentlich eine Stärke zu verkaufen, so der Glaube.

Aber ist Perfektionismus wirklich eine Stärke? Es ist, als wäre er aus der Zeit gefallen. Einst war Perfektionismus vielleicht für etwas gut, aber die Zeiten haben sich verändert. Dennoch scheint der Drang zur absoluten Fehlerfreiheit in den letzten Jahrzehnten stetig zuzunehmen, und das obwohl wir doch eigentlich alle wissen, dass wir iterativ MVPs entwickeln müssen, um mit dem Markt Schritt zu halten. Warum werden wir den Perfektionismus nicht los und was macht er mit uns?

Die Illusion der Perfektion

Wer den Antreiber „sei perfekt“ in sich trägt, kennt auch meist seine Auswirkungen. Das Streben danach tut uns nichts Gutes, es quält uns. Es ist wie eine immer lauter werdende Stimme, die uns zuschreit, dass die vollbrachte Arbeit und auch wir selbst oder andere nicht gut genug seien.

Ich erlebe das auch in Coachings mit Führungskräften. Das Streben nach Perfektion gräbt sich schon sehr früh im Leben intensiv in die eigenen Glaubenssätze ein und es erscheint später fast unmöglich, davon loszukommen. Viele kämpfen ihr Leben lang gegen die eigenen Ansprüche. Dahinter stecken häufig ein Kompensationsmechanismus und der Drang nach Liebe und Anerkennung. Perfektionist:innen glauben, je besser sie etwas machten, desto mehr seien sie wert. Ein nicht enden wollendes Wettrennen. Auch der Hamburger Psychiater Helmut Peter stellte fest, dass die meisten seiner Burn-out Patient:innen perfektionistisch veranlagt seien und sagte: „Perfektionismus begünstigt psychische Krankheiten wie Depression oder Angststörungen.“

Der Knoten löst sich nicht, indem wir versuchen, Perfektion zu erreichen. Sie ist nicht erreichbar. Sie ist nicht mal existent.

Der Duden bringt es auf den Punkt. Demnach bedeutet Perfektion: „Höchste Vollendung in der Beherrschung von etwas.“ Und hier kommt das Problem: Die Vollendung eines Zustands gibt es nicht. Perfektion ist eine Illusion. Zudem noch eine sehr individuelle, denn was der eine Mensch als perfekt definiert, würde ein anderer ganz anders sehen. Perfektion ist eine von jedem Menschen individuell konstruierte Vorstellung, die mit den eigenen Werten, Glaubenssätzen und der eigenen Sozialisierung zu tun hat. Kurz gesagt, für jeden Menschen ist ein anderer Zustand „perfekt“. Ich nenne Perfektion daher gerne Perfiktion, denn sie stellt nichts anderes als eine Fiktion dar.

Das Paradigma von Stabilität und Vollendung

Bereits im 19. Jahrhundert stellte der französische Schriftsteller Alfred de Musset klar: „Perfektion existiert nicht. Nach ihr zu streben, ist die gefährlichste Art der Verrücktheit.“ De Mussets Worte sind heute aktueller denn je. Wir leben in einer Welt, in der das Konzept des Lebenslangen Lernens immer wichtiger wird, weil wir mit immer neuen, komplexen oder auch chaotischen Herausforderungen konfrontiert werden. Wer glaubt, wer die Herausforderungen meistere, könne sich erstmal auf der Qualität der Ergebnisse ausruhen, hat falsch gedacht. Stabilität gibt es nicht. Morgen wartet die nächste Herausforderung, und das, was wir heute gut hinbekommen haben, hilft uns ziemlich sicher morgen schon nicht mehr weiter.

Wer nach Perfektion strebt, sehnt sich nach Stillstand, denn nur im Stillstand hätte der perfekte Zustand einen nachhaltigen Wert.

Wir vollenden heute keine Zustände mehr. Zum Leidwesen von Organisationen, die Perfektion anstreben, denn sie denken in der Qualität von Ergebnissen, Abgaben und Abschlüssen. Kann man diese Zustände allerdings nicht gebührend wahrnehmen, kann das ziemlich anstrengend und auslaugend werden.

Wer nach Perfektion strebt, sehnt sich nach Stillstand, denn nur im Stillstand hätte der perfekte Zustand einen nachhaltigen Wert. Unternehmen befinden sich allerdings im ständigen Wandel und Stillstand käme heute dem Aus der Unternehmung gleich. 

Perfektion killt Innovation

Den andauernden Wandel nur zu meistern, reicht allerdings ebenfalls schon lange nicht mehr. Wir müssen ihn vielmehr entdecken wollen und uns über jede neue Herausforderung freuen, die wir gefunden haben. Anders als früher suchen wir heute aktiv nach Herausforderungen, denn wir wollen neue innovative Produkte für Kunden entwickeln. Dabei verlassen wir uns nicht auf Dinge, die früher schon gut funktioniert haben, sondern wir wollen neue Wege beschreiten. Iterative, inkrementelle Produktentwicklung bringt mit sich, dass wir zu Beginn noch nicht wissen, was wir auf dem Weg entdecken. Die Arbeit mit Experimenten und das Aufdecken von Irrtümern ist an der Tagesordnung. Wir denken in 80 Prozent-Lösungen und MVPs. Von Perfektion ist das ganz weit entfernt.

Wenn das Management Wert auf perfekt ausgearbeitete Präsentationen, friktionslose Sprints und bis ins Detail vorbereitete Experimente legt, während andere Unternehmen längst losgelegt haben, entsteht ein großer Wettbewerbsnachteil.

Wenn Entscheider:innen im Unternehmen allerdings Perfektion im stillen Kämmerlein wollen, während der Kunde an der Entwicklung am liebsten von Beginn an beteiligt sein möchte, kann das nicht gut gehen. Wenn das Management Wert auf perfekt ausgearbeitete Präsentationen, friktionslose Sprints und bis ins Detail vorbereitete Experimente legt, während andere Unternehmen längst losgelegt haben, entsteht ein großer Wettbewerbsnachteil. Organisationen können nicht so tun, als würden sie agil und kundenorientiert arbeiten, um dann doch jeden Schritt dreimal zu kontrollieren und abzusichern, ohne dass es Konsequenzen hat. Diese sind unter anderem Scheinagilität, Frust und Orientierungslosigkeit bei den Mitarbeitenden und Unglaubwürdigkeit bei den Kund:innen. Vor allem aber wirkt sich dieses Vorgehen massiv auf die Innovationskraft aus. Perfektionist:innen arbeiten an der Reduktion von Defiziten oder daran, wie sie sie kaschieren können. Defizite sind allerdings ein großartiger Quell für Innovation und bedarfsorientierte Produktentwicklung. Diese Zusammenhänge zu torpedieren und sich in Details zu verlieren kann die ganze Unternehmung gefährden und richtig teuer werden.

Kostenfalle Detailverliebtheit

Nach einer Studie von Alexander Proudfoot Consulting kostet Perfektionismus Unternehmen jährlich 26 Arbeitstage und insgesamt ca. 135 Milliarden Euro. Wer also bereits die Sparstrategie für diesen Winter entwickelt hat und die Heizung ordentlich runterdreht, der sollte vielleicht erstmal anfangen, an den eigenen Ansprüchen zu drehen und sich zu fragen, wie lange Prozesse, Projekte und Meetings gerade dauern, weil ein nicht zu erreichender Zustand angestrebt wird und alle wieder das Haar in der Suppe suchen müssen.

Menschlichkeit und Ecken und Kanten prägen uns und unsere Definition von Vorbildern. Sie machen Unternehmen erfolgreich und definieren, warum Kunden etwas kaufen oder nicht.

Ich wurde vor kurzem gefragt, was eine perfekte Führungskraft ausmacht. Meine Antwort: „Eine perfekte Führungskraft gibt es nicht. Zum Glück, denn wer würde von jemandem geführt werden wollen, der oder die perfekt ist?“ Wenn wir an unsere Vorbilder denken, dann sind die Momente, in denen sie uns geprägt haben nicht die, in denen sie etwas fehlerfrei abgeliefert oder aalglatt gehandelt haben. Es sind die Momente, in denen sie weit weg von jeglicher Perfektionsvorstellung sind. Die Momente, in denen sie Mensch sind. Menschlichkeit und Ecken und Kanten prägen uns und unsere Definition von Vorbildern. Sie machen Unternehmen erfolgreich und definieren, warum Kunden etwas kaufen oder nicht. Wenn wir also mal wieder in die Perfektionsfalle geraten, dann sollten wir darüber nachdenken, wer unsere Vorbilder sind und warum. Wollen auch wir solche Vorbilder sein, sollten wir uns vom Perfektionsanspruch lösen, denn er ist keine Stärke, sondern ein Innovations- und Entwicklungskiller. Wir müssen wegkommen, von der Illusion der perfekten Ausarbeitung von Ergebnissen und hin zu einem wirklichen Verständnis eines andauernden Work in Progress.