Business Transformation Innovation

„Wir sollten intrinsische Motivation nicht bestrafen“

Beim niederländischen Finanz-Unternehmen Viisi stößt eine holakratische Arbeitskultur auf ein Vergütungssystem, das ähnlich wie klassische Tarifverträge funktioniert. Wie passt das zusammen? Ein Gespräch mit Co-Founder und „Viisionair“ Tom van der Lubbe.

Stabile Gehaltsentwicklung, entkoppelt von der aktuellen Unternehmensperformance: Das Modell Viisi.    Foto: Viisi
Stabile Gehaltsentwicklung, entkoppelt von der aktuellen Unternehmensperformance: Das Modell Viisi. Foto: Viisi

MitarbeiterInnen zuerst

Tom, mit Viisi seid Ihr angetreten, die Finanzwelt zu verändern. Was läuft in der Branche schief aus Deiner Sicht?

Wie in anderen Branchen auch, richten sich die Unternehmen in der Finanzindustrie zu kurzfristig am Shareholder Value aus. Sehr viele Finanzaktivitäten sind demzufolge einfach nicht nachhaltig. Das ist kein Zukunftsmodell, und die meisten Menschen, die im Finanzbereich arbeiten, sehen das auch so. Als wir als Finanzplaner Viisi im Jahr 2010 ins Leben gerufen haben, wollten wir die Finanzwelt qualitativ besser und nachhaltiger machen. Dafür haben wir die Gewichtung der Stakeholder-Interessen auf den Kopf gestellt: Die eigenen Mitarbeiter kommen zuerst, dann erst die Kunden und zuletzt die Shareholder.

Bei uns weiß jeder, was er oder sie in Zukunft verdient.
Tom von der Lubbe

Wie zeigt sich das an Eurer Art zusammenzuarbeiten?

Jeder Mitarbeiter soll seinem persönlichen Purpose folgen können, und das geht in selbstorganisierten Teams am besten. Wir haben Elemente von Holakratie implementiert, aber auch das „Primus-inter-pares-Prinzip“ aus der Antike, wonach Führungskräfte für einen bestimmten Zeitraum gewählt werden und dann rotieren. Wer in einem Team die führende oder koordinierende Rolle übernimmt, entscheiden die Teams selbst. Dazu kommt, dass es kein höheres Gehalt für diese Führungsrolle gibt. Das Problem, das auch als Peter-Prinzip bekannt ist, dass gute Fachkräfte Führungskarrieren anstreben, obwohl sie dafür nicht unbedingt geeignet sind, haben wir damit gelöst.

"Im Team hilft man sich. Nur, wenn jemand ein echtes „Arschloch“ ist oder seinen Beitrag nicht leistet, akzeptieren das die Teamkollegen nicht", sagt Tom van der Lubbe.

Gehaltsentwicklung auf 40 Jahre berechnet

Wie sieht Euer Vergütungsmodell konkret aus?

Wir haben inzwischen 40 Mitarbeiter und fünf Teams – Berater, Kreditabteilung, Digital, People & Coaching sowie Administration & Kundenservice. Jedes Team hat einen eigenen Tarif mit automatischen Gehaltssteigerungen gemäß Erfahrung. Dafür zeichnen wir anhand eines Benchmarks am Arbeitsmarkt fünf Gehaltskurven, die die Veränderung der Gehälter über die nächsten 40 Jahre vorgeben. Bei uns weiß jeder, was er oder sie in Zukunft verdient. Auch wir Gründer stehen auf der Gehaltskurve wie alle anderen Kollegen auch. Wir haben außer unseren Hauptrollen noch eine sogenannte „Aktionärsrolle“, aber die wird nicht vergütet.

Hattet Ihr dieses System vom Start weg oder wie habt Ihr Euer Vergütungssystem entwickelt?

Wir arbeiten seit ein paar Jahren an unserem Gehaltsmodell. Ausgangspunkt war die Frage, wie wir die intrinsische Motivation der Mitarbeiter am wenigsten stören und jede Form der extrinsischen Incentivierung rausnehmen können.

Wie seid Ihr zu dem für Euch passenden Gehaltsbenchmark gekommen?

Als wir unser Vergütungssystem eingeführt haben, waren wir vielleicht 15 Leute – und da war das recht einfach: Wir haben in der Analysephase sehr viele Zahlen zusammengetragen wie etwa Gesamtarbeitsverträge aus der Finanzbranche oder Daten vom Statistischen Bundesamt. Daraus sind Kurven für eine durchschnittliche Gehaltsentwicklung nach Ausbildung entstanden. Für unsere eigenen Gehaltskurven haben wir die oberen 25 Prozent genommen.

Wir wollten jede Form von extrinsischer Motivation aus dem Thema Vergütung herausnehmen.
Tom von der Lubbe

Wir möchten, dass unser Vergütungssystem ein autonomes, dezentrales System ist. Aber wenn sich die Marktbedingungen ändern, können uns die Mitarbeiter darauf hinweisen. So stellen wir sicher, dass unser Modell immer up-to-date ist und wir nicht irgendwelche Entwicklungen am Arbeitsmarkt verpassen. In den drei Jahren, die wir das nun so praktizieren, mussten wir aber nur einmal die Gehälter in einem Team anpassen. 

Wie erklärst Du Dir das? Waren Eure Prognosen für die Gehaltskurven so gut?

Da wir uns am oberen Viertel des Benchmarks orientieren und die Gehälter automatisch steigen, können die Leute über kleinere Schwankungen hinwegsehen. Wenn Fachkräfte in manchen Jobs fehlen und Gehälter am Markt zum Beispiel um 200 Euro steigen, können sich die Mitarbeiter trotzdem darauf verlassen, dass sie fortlaufend mehr Geld bekommen – das schafft psychologische Sicherheit und man muss sich nicht ständig damit beschäftigen. Warum sollten wir für einen kurzfristigen Gehaltsanstieg das Risiko eines Arbeitgeberwechsels in Kauf nehmen? Das ist die gleiche Überlegung wie beim Spurwechsel auf der Autobahn: Irgendwann merken wir, dass das nichts bringt.

Heute schon wissen, was man in zehn Jahren verdienen wird. Das gibt Sicherheit – und befreit alle von mühsamen Gehaltsverhandlungen.   Foto: Viisi
Heute schon wissen, was man in zehn Jahren verdienen wird. Das gibt Sicherheit – und befreit alle von mühsamen Gehaltsverhandlungen.   Foto: Viisi

Und inwiefern ist Euer System transparent?

Wir haben von Anfang an größtmögliche Transparenz praktiziert. Als wir Holakratie eingeführt haben, konnte jeder in unserer Software, in GlassFrog, über die Website oder unsere E-Mail-Signaturen zu unseren Rollen und Logs in der Organisation gelangen. Das war Absicht und auch mit der Vergütung gehen wir offen um. Als wir die Gehälter veröffentlicht haben, war das für nur ein paar Tage ein Thema und danach ziemlich schnell uninteressant. Wenn das Gehalt aber geheim ist, beschäftigt es Mitarbeiter hingegen immer wieder.

Durch Transparenz können Spannungen herauskommen und gelöst werden, die sonst unter der Oberfläche weiter gebrodelt hätten.
Tom van der Lubbe

Welche Themen kamen da am Anfang hoch, als die Gehälter transparent wurden?

Da hat zum Beispiel ein Kundenberater zu einem Kollegen, der Social Media macht, gesagt: „Warum verdienst Du eigentlich so viel wie ich?“. Beide sind gleich alt, aber der Berater dachte, seine Arbeit sei wichtiger. Anhand der Marktdaten hat unser Social-Media-Mitarbeiter dann selbst erklärt, dass in seinem Bereich genauso viel gezahlt wird wie in der Beratung und sein Gehalt somit marktgerecht ist. Das war dann vom Tisch. Wir hatten auch eine Mitarbeiterin, die von Anfang an dabei ist und immer wichtigeren Aufgaben übernommen hat. Fast alle Kollegen waren dafür, ihr Gehalt zu erhöhen, was wir dann in zwei Gehaltsschritten auch getan haben. Das zeigt: Durch Transparenz können Spannungen herauskommen und gelöst werden, die sonst unter der Oberfläche weiter gebrodelt hätten.

Nach diesen anfänglichen Debatten haben wir angefangen, allen Bewerbern direkt am Anfang des Bewerbungsprozesses das Gehalt mitzuteilen. Die Kandidaten haben es sehr positiv aufgenommen, dass sie nicht mehr verhandeln müssen.

Ziel: Gehalt auch extern transparent machen

Also können alle die Gehälter der Mitarbeiter sehen, auch Externe?

Bis vor Kurzem waren alle Gehälter nur intern transparent. Das hat sich dann herumgesprochen und viele Unternehmen fanden das spannend. Deshalb haben wir die Gehaltskurven auch in Vorträgen geteilt. Daraus kann man einfach auf die Gehälter der einzelnen Mitarbeiter schließen, wenn man ihr Jobprofil und ihre Berufserfahrung kennt. Wir haben auch vor, das ganze Gehaltsmodell mit der zugehörigen Excel-Tabelle online zu stellen, so dass sich jeder ausrechnen kann, was man bei uns verdienen würde. Wir kennen ja auch die Gehälter von Menschen in öffentlichen Ämtern. Warum sollte das in der Finanzindustrie anders sein?

In einem holakratisch organisierten Unternehmen entstehen ständig neue Kreise und neue Rollen. Wie agil passt sich Euer Gehaltssystem daran an?

Wir halten das einfach: Das Gehalt richtet sich nach den Rollen, die jemand in seinem wesentlichen Kreis oder Team ausübst. Das ist vergleichbar mit IT-, Sales- oder Finanz-Abteilungen in klassischen Unternehmen. Jeder kann zusätzlich Aufgaben oder Rollen in anderen Kreisen ausüben oder einmal etwas ausprobieren. Zum Beispiel kann jemand aus der IT-Abteilung auch bloggen oder die Weihnachtsfeier organisieren. Aber das führt nicht dazu, dass man in einem ganz anderen Bereich arbeitet. Deshalb spielt das beim Gehalt keine Rolle.

Euer Tarifmodell erinnert an den öffentlichen Dienst. Kann das ein Vorbild für Unternehmen sein, die sich in Zukunft immer wieder neu erfinden müssen?

Unser Ansatz hört sich vielleicht zunächst nicht so innovativ an, aber wir folgen der Wissenschaft, die Anreizsysteme und Performance ausgiebig untersucht hat. Viele werden die Forschung von Daniel Kahneman kennen oder die Videos von Daniel Pink, wonach Belohnung für mehr Arbeit nicht nur nicht funktioniert, sondern sogar kontraproduktiv ist. Und die Leute geben oft kein ehrliches Feedback mehr, wenn das Konsequenzen für die Vergütung hat. Die meisten Firmen ignorieren das und arbeiten immer noch mit der Karotte. Dabei konterkariert das die Teamarbeit. Wenn das ganze Geschachere und Bonuszahlungen wegfallen, fördert das hingegen die Kollegialität und die intrinsische Motivation.

Kollegialität und intrinsische Motivation stärken

Im Idealfall schon, aber es gibt auch andere Beispiele – etwa, dass Beamte gerne Dienst nach Vorschrift machen…

Das mag für hierarchische Organisationen gelten, aber in selbststeuernden Systemen löst sich unzureichende Performance durch die Gruppe. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, haben Menschen das intrinsische Bedürfnis, besser zu werden, ein Prinzip, das Daniel Pink „Mastery“ nennt. Und im Team hilft man sich. Nur dann, wenn jemand ein echtes „Arschloch“ ist oder seinen Beitrag nicht leistet, akzeptieren das die Teamkollegen nicht. Die Person geht dann auf Dauer von selbst, da man diesen Druck der Gruppe nicht lange aushält.

Inwiefern ist die Vergütung bei Viisi abhängig von Eurer Gesamtperformance, also der wirtschaftlichen Entwicklung des Unternehmens?

Die Vergütung ist bei uns komplett davon entkoppelt. Es gibt es keinen Teambonus für gute Performance, denn das wäre auch eine Art Karotte, die einem vorgehalten wird. Damit bleibt die Gefahr, dass man sich durch ein wirtschaftliches Ziel verführen lässt. Aber vielleicht wäre das Unternehmen langfristig erfolgreicher, wenn man auf kurzfristigen Umsatz, einen Kunden oder Kollegen verzichten würde. Der Teambonus setzt dann falsche Anreize und kann so eine Unternehmenskultur von innen angreifen. Die Firmenkultur, das Unternehmen und das ganze Team werden eher gestärkt, wenn das Menschliche schwerer wiegt als das Finanzielle. Was wir aber schon haben, ist eine Beteiligung in Aktien.

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Die Gründer und Shareholder von Viisi wollen die Finanzbranche revolutionieren. Auch in Sachen Vergütung.

Wie funktioniert die Aktienbeteiligung?

Zehn Prozent der Aktien sind für die Mitarbeiter reserviert. Jeder bekommt unabhängig von der Job-Funktion und Arbeitszeit jedes Jahr einen Punkt. Bei einem eventuellen Verkauf oder Börsengang werden alle Punkte zusammengezählt und der Wert der Mitarbeiterbeteiligung durch die Anzahl Punkte geteilt. Der Entscheidungsprozess war auch hier interessant: Wir haben viel diskutiert, woran wir die Punkte festmachen – am Gehalt oder der Betriebszugehörigkeit. Und was ist, wenn jemand Teilzeit arbeitet oder ein Sabbatical macht? Wir kamen darauf, dass sich das am Ende ausgleicht und alle irgendwann aus privaten Gründen einmal etwas kürzertreten. Das könnte man aber auch unendlich komplex machen und das passiert in vielen Organisationen. Es ist viel schwerer, Dinge einfach zu halten. Das erfordert mehr Denkarbeit.

Vereinfacht gesagt bedeutet eine Gehaltssteigerung von 200 Euro mal 12 Monate, also um 2400 Euro jährlich, ungefähr ein Kunde pro Jahr mehr – und das ist in der Praxis mehr als realistisch.
Tom van der Lubbe

Ein Gehaltssystem, das automatische Gehaltssteigerungen vorsieht, könnte allerdings in Schwierigkeiten geraten, wenn das Unternehmen nicht kontinuierlich wächst. Wie krisenresistent ist Euer Ansatz?

Das Gehaltsmodell ist unabhängig vom Wachstum des Unternehmens als Ganzes. Wir haben zum Beispiel die Gehaltssteigerungen für Kundenberater umgerechnet, um zu schauen, ob eine Umsatzsteigerung realistisch ist und für uns ist es das. Vereinfacht gesagt bedeutet eine Gehaltssteigerung von 200 Euro mal 12 Monate, also um 2400 Euro jährlich, ungefähr ein Kunde pro Jahr mehr. Und das ist in der Praxis mehr als realistisch.

Wir sind ein kleines Unternehmen, möchten aber mit der Vergütung der großen Corporates mithalten. Wenn Start-ups weniger zahlen, weil sie sich und ihre Arbeitsbedingungen für so cool halten, funktioniert das nur am Anfang. Wenn sie größer werden, sind sie schnell nicht mehr so sexy und dann lässt sich das nur schwer korrigieren – da muss man Gehälter unter Umständen um 10 oder 20 Prozent erhöhen, um noch Leute zu finden. Außerdem ist das eine Frage der Haltung. Wir finden: Menschen sollten nicht dafür bestraft werden, dass sie intrinsisch motiviert sind.